"Bildung ist wichtig, vor allem wenn es gilt, Vorurteile abzubauen.
Wenn man schon ein Gefangener seines eigenen Geistes ist, kann man wenigstens dafür sorgen, daß die Zelle anständig möbliert ist.
"
Peter Ustinov
„Wer die Freiheit aufgibt um Sicherheit zu gewinnen, der wird am Ende beides verlieren.“

Benjamin Franklin


Mittwoch, 13. Januar 2010

Individualismus ade?

Bei meiner Blogrunde stieß ich vor längerer Zeit (Anfang Dezember) zuerst auf ein sehr treffendes Youtube-Video auf esoterikwatch.org, in dem Georg Schramm sehr treffende Worte findet zur Brenner-Koch-Affaire, dem Westentaschen-Berlusconi Roland Koch und einigen anderen Schmankerl.
Ich habe wirklich lange gebraucht, bis ich dieses sardonische Lächeln wieder los wurde...

Danach fand ich bei Follow the white Rabbit einen Beitrag, der sich ebenfalls mit dem Rauswurf von Nikolaus Brenner befasst, allerdings in einem etwas anderen Zusammenhang.

Und nun können alle Leser, die in Erwartung eines weiteren meiner "politischen" Beiträge schon wieder entnervt das Weite suchen wollten, sich entspannt zurücklehnen.
Denn um Politik soll es hier nicht gehen.

Vielmehr stelle ich mir in Hinblick auf die Gegenüberstellung der zwei Fälle von Misfit, die scheinbar keinen Zusammenhang haben, die Frage, in wie weit wir heute schon auf dem Weg hin zu einer albtraumhaften Welt sind, in der Individualität und Selbstbestimmung zu Gunsten einer konformistischen Einstellung und bloßem Kollektivismus einfach abgeschafft wurde?

Denn da werden wir landen, wenn weiterhin Menschen, die sich nicht in eine Schablone pressen lassen wollen, die ihrer Linie treu bleiben, die sich nicht dem Verhalten, der Meinung und Lebensgewohnheit der Mehrheit unterwerfen, die sich nicht den sogenannten Autoritäten beugen, einfach ins Aus geschossen werden, sei es, dass man böse Vermutungen über ihren Seelenzustand oder ihre Lebensgewohnheiten anstellt, oder wie im Fall Brenners, sie einfach aus exponierten Stellen entfernt.

Wer bestimmt denn, was die Norm ist, was als normal gelten darf, was angemessenen Verhalten betrifft?
Doch wohl immer eine irgendwie definierte Mehrheit.
Dabei kann die Norm, also das, was als normal angesehen wird, sehr starken Schwankungen unterworfen sein, je nachdem, wie die Mehrheit des kulturellen und sozialen Umfeldes, in dem man sich gerade bewegt, beschaffen ist.
Im sozial definierten Kleinbürgertums mag es als normal gelten, mindestens einmal im Jahr in Urlaub zu fahren, mindestens ein Auto und ein nicht abbezahltes Eigenheim zu besitzen, verheiratet zu sein und durchschnittlich 2,5 Kinder zu haben, sich abends mit einem Bierchen und Salzstangen vor den Fernseher zu parken und nicht weiter aufzufallen.

Wenn ich Freitagsabends bei uns zum Kaufland (oder wie es meine Tochter immer lakonisch nennt, in die "Twightlightzone") gehe, dann ist es so, dass sich dort hauptsächlich, die Haute volet des Präkariats bei ihrem Äquivalent der kleinbürgerlichen Phantasialandausflugs mit ihrem gesamten Anhang (Papa, unrasiert im ballonseidenen Jogginganzug oder in Schnellfickerhose, Oma, Mutter, Kinder und Kindeskinder, wobei die Altersdifferenz der Generationen bei durchschnittlich 14 Jahre liegt), viele, grölende und sich in archaischen Lauten artikulierenden Teenies (in der einen Hand 'ne Pulle Wodka und Cola in der anderen Hand zwei Pullen Palmero ,Wochenend-Event-Must-have anscheinend), und andere, merkwürdige Gestalten (einschließlich Mama Krähe nebst Tochter, soviel Selbsterkenntnis sollte schon sein!) eingefunden haben.
Also dürfte diese Masse dort eben als Norm gelten. Sie nehmen einander auch ganz bestimmt als völlig normal wahr, wenn überhaupt. Für mich hingegen sind solche Erfahrungen, rein subjektiv, vergleichbar mit einem Zoobesuch und ich bin ehrlich immer froh, wenn ich da wieder raus bin.

Für mich sind eben ganz andere Verhaltensweisen und ein ganz anderer anderer Habitus "normal".
Wobei, und das meine ich ganz ehrlich, ich es vorziehe, wenn jemand authentisch rüberkommt. Ich habe nämlich über die Jahre und die Erfahrungen, die ich gemacht habe, gelernt, dass nicht wirklich zählt, was ich persönlich als Normalität betrachte. Klar, es erleichtert den "Erstkontakt" und das soziale Miteinander für mich und eigentlich für jedermann, wenn der Gegenüber derselben Norm zu folgen scheint.

Aber, gerade was Äußerlichkeiten betrifft, und, da kann man noch so beteuern, das die eben nicht wichtig sind, wenn ich jemanden sehe, dann nehme ich ihn eben erst einmal visuell wahr und "innere Werte" kann man nun eben nicht von außen erkennen, kann man sich ziemlich schnell täuschen lassen.
Nur, weil jemand meinem persönlichen Klamottengeschmack trifft, heißt das nicht, dass er auch so tickt wie ich, und wenn jemand sich in meinen Augen total bescheuert kleidet, heißt das ebenso wenig, dass er auch bescheuert ist.
Erstens kann man ja über Geschmack bekanntlich streiten, zweitens, kann gerade die Wahl der Kleidung vielerlei Gründe haben. Wer bin ich also, wenn ich von der äußerlichen Erscheinung einfach so Rückschlüsse auf die Person selbst ziehen würde? Tu' ich natürlich schon, wie alle, binnen einem Bruchteil einer Minute fälle ich ein Urteil. Aber glücklicherweise ist der Mensch ja zum Denken fähig. Also landet mein Urteil auch gleich dort, wohin es gehört, Ablage Rundordner.

Bedenklich wird es in meinen Augen, wenn Verhaltensweisen, Lebensstil und Aussagen von Personen ausschließlich an der eigenen Norm gemessen werden. Wie man an dem Beispiel des Jungen in Misfits Beitrag sehr schön sehen kann, kann das Anlegen des eigenen Maßes, hier von Seiten des Lehrers, sogar eine Existenz gefährden, sogar zerstören. Was spontane Fehlurteile anrichten können, wenn sie nicht durch nähere Betrachtung und objektiver Beurteilung relativiert werden, kann sich jeder denken.
Eine alleinerziehende Frau, welche mehrere Kinder von unterschiedlichen Partnern hat, wird sehr schnell als Schlampe abgestempelt, erst recht, wenn sie zudem auf die Norm "monogame Beziehung" verzichtet. Keiner fragt da noch lange nach ihren Beweggründen.
Ein alleinstehender Mann, der, statt Kinder ständig vom Rasen zu jagen, und wegen jedem Mist anzumaulen, sich lieber mit ihnen unterhält oder vielleicht sogar mitspielt, kriegt schnell das Etikett "Kinderschänder" angehängt. Die Gefahr läuft allerdings auch ein Vater, der, völlig ohne Hintergedanken, mit seinen Kindern zusammen badet. Ich will nicht wissen, wie viele Kindergärtnerinnen bei Erzählungen ihrer "Schützlinge" über solche Verhaltensweisen in Familien schon misstrauisch geworden sind und das Jugendamt informiert haben.

Ich kenne z.B. eine Familie, welche geschlossen Anhänger des Nudismus sind. Da kann es schon einmal passieren, dass der Herr des Hauses völlig unbekleidet die Haustür öffnet. Nicht, weil er Exibitionist wäre, sondern weil die ganze Familie zu Hause, sofern es die Temperaturen zulassen, nackt herumläuft und somit die Nacktheit völlig als normal empfunden wird. Da passiert es schon mal, dass man vergisst, sich ein Handtuch über zu verwerfen, wenn es klingelt.
Das mag für den einen oder anderen zwar ziemlich strange sein, aber "unnormal"?

Besonders dramatisch können für Betroffene solche pauschal getroffene Bewertungen eben werden, wenn sie aus berufenem Munde, "professionellem" Quellen, stammen, wie sie ja nach Ansicht der breiten Öffentlichkeit eben Lehrer, Psychologen, Sozialpädagogen, Ärzten usw. darstellen.

Diese unterliegen aber trotz ihrer Ausbildung auch noch gewissen Einflüssen ihres Umfeldes und sind somit genauso wenig frei von persönlichen Ressentiments.

Ein Sozialpädagoge, beispielsweise, der Tag täglich nur mit rudimäntardeutsch sprechenden Gangstas aus sozialen Brennpunkten zu tun hat, wird da schon einmal, wenn er dann auf einen sich verbal korrekt ausdrückenden Jugendlichen trifft, der zu allem Überfluss auch noch Aussagen wie "Ich bin anders, und das ist auch gut so!" und "Ich habe festgestellt, dass ich auf eine andere Weise denke, als meine Altersgenosse!" und dann noch bekundet, dass er sich statt der Störungen im Unterricht eben von Seiten der Gangsta-Fraktion lieber Ruhe wünsche, weil er sich andernfalls nur schwer konzentrieren könne, nicht, wie eigentlich zu erwarten, vor Freude in die Luft springen, sondern vermuten, dass der Junge an einer tiefgreifende Entwicklungsstörung, wie Autismus leiden könnte.

Jemand, der sich gegenüber einem Psychologen zu dem Bekenntnis verleiten lässt, dass er mit unsichtbaren Wesenheiten oder gar Göttern kommuniziert, gar in andere Welten reist und dort interagiert und Botschaften erhält, darf sich nicht wundern, wenn er mit der Diagnose "Paranoide Schizophrenie" und einem Rezept für Neuroleptika nach Hause geht (wenn er nicht gleich in die Geschlossene eingeliefert wird), wenn diesem ein solches Denken völlig fremd ist.

Die Liste der Beispiel ließe sich beliebig erweitern.

Wer nicht mit den Wölfen heult, wer sein Ding durchzieht, wird auf die eine oder andere Art immer mit der sogenannten Norm konfrontiert und an ihr gemessen werden. Fakt ist, dass jeder Verhaltensweisen aufweist, die für einen anderen im besten Fall skurril, im schlimmsten jedoch inakzeptabel sind.

Im Grunde ist jeder Mensch, der sein Leben lebt und nicht das eines anderen, ein Individualist.
Wobei, das ist mir bei dem Verfassen eines Artikels unter MSWord aufgefallen, das Wort "Individualist" an sich wohl im "normalen" Sprachgebrauch auch schon ein negatives Image genießt. Wenn man da nämlich den Thesaurus anwendet, bekommt man als Synonyme Begriffe wie "Exzentriker", "Spielverderber", "Störenfried", "Querkopf", "Trotzkopf", "Krakeeler" geliefert.
Alles keine besonders positiv belegte Begriffe.
In einem Wörterbuch fand ich zum Beispiel betreffs "Exzentriker" folgende Definition:
"Exzentriker

Ein Exzentriker (aus dem Lateinischen ex centro, außerhalb des Mittelpunktes) ist eine Person, die überspannt oder verschroben ist, bzw. auf andere Art deutlich von der sozialen Norm abweicht."

Das erweckt bei mir den Eindruck, ein Individualist, ein Nonkonformist, wäre gleich sozial inkompetent.
Was natürlich Quatsch ist.
Ich kenne eine Menge "Individualisten", die sogar sehr gut in und mit der Gesellschaft interagieren und dabei sehr glücklich und zufrieden wirken. Eine Einstellung, welche ich, nach rein subjektivem Empfinden, natürlich, bei jenen, die nach Konformität, im Sinne der Norm der Mehrheit der Gesellschaft, streben, immer etwas vermissse.

Das Streben nach Individualismus bedeutet ja nicht zwangsläufig, dass man nicht mit der einen oder anderen Meinung oder Lebenseinstellung konform geht. Wie ich eingangs schon sagte, alles eine Sache des sozialen oder situationsbedingten Konsens.
Wer für sich allerdings die Selbstdiagnose "Individualist" immer als Alibi benutzt, seine mangelnde Teamfähigkeit zu kaschieren, überall und immer gegen Mehrheitsbeschlüsse zu sein und dem es generell an der Bereitschaft mangelt, sich mal etwas zurück zu nehmen, ist in meinen Augen eher ein Egoist oder Egomane, ohne das jetzt werten zu wollen. Aber ich denke, in diesem fehlerhaften Bezug liegt ein Gutteil der negativ belasteten Interpretation des "Individualismus" begründet.
Auch Konformität ist ja nicht gleich etwas negatives. Die Frage, die man sich jedoch stellen sollte, ist immer, die Höhe des Preises, die man zum Zwecke dieser Anpassung zu zahlen bereit ist. Das kann nur jeder für sich entscheiden.

Bedenklich finde ich es aber auf jeden Fall, dass Menschen, die für sich dort eine Grenze ziehen, wo aus freiwilliger und adäquater Anpassung an eine Gruppennorm ein regelrechter Konformitätdruck erwächst, also man sich selbst verleugnen und seinen eigenen ethischen, moralischen und ideellen Wertvorstellungen zuwider handeln müsste, wenn man sich der gängigen Norm oder der Meinung der Masse beugen würde, mittlerweile doch ziemlich locker und leicht einfach rausgekantet werden können. Sei es, dass da jemand an der richtigen Schraube dreht oder einfach dadurch, dass man denjenigen diskreditiert oder durch falsche Verdächtigungen oder vorschnelle Urteile unmöglich macht.

Was in den Köpfen beginnt, schleicht sich, meiner Meinung nach, viel zu schnell auch in den tagtäglich Umgang miteinander ein.
Wenn man soweit ist, Behauptungen über Personen, auch und gerade, wenn man diesen Menschen gut kennt, hin nimmt und nur denkt "Oh, das hätte ich von dem aber nicht erwartet!" anstatt nach Beweisen und Begründungen zu fragen, ist auf dem besten Wege dem Kollegtivismus Tür und Tor zu öffnen.

Irgendwann ist man dann wieder so weit, wenn jemand einfach "weg ist", nur noch gleichgültig mit den Achsel zu zucken. "Ja, der wird schon was getan haben, wenn sie ihn abgeholt haben!"

Hellhörig sollte man auf jeden Fall dann werden, wenn von irgendwo neue Begriffe, oder besser Schlagworte, für Verhaltensweisen aufkommen, die es so, oder in dem Zusammenhang, vorher nicht gegeben hat. Mir kam schon bei dem bescheuerten "pädokriminell" von unser Ex-Uschi das kalte Kotzen und ich assoziierte es spontan mit dem "Sinnestäter" aus Equilibrium.
Aber schon bei dem gedankenlosen Gebrauch des Wortes "Amoklauf" für von langer Hand geplante Abrechnungsfeldzüge, per Definition schon Schwachsinn, kann man, meines Erachtens diese schleichende Entwicklung beobachten.

Allerdings, die in den letzten Jahren zunehmend zu beobachtenden Häufungen solcher, weitaus treffender als School-Shootings bezeichneten, Gewaltausbrüche, lässt mich vermuten, dass, neben dem nicht zu unterschätzenden Werther-Effekt, auch eben besagter Zwang zu Konformität und der Erwartungsdruck einer Norm entsprechen zu müssen, eine große Rolle spielen dürfte.

Auch das ist für mich ein Argument dafür, dass man den Hang zum Individualismus in der Gesellschaft stärken sollte. Wenn man allen zu gesteht, sie selbst sein zu dürfen und sie so akzeptiert, wie sie sind, ließe auch der Druck nach, irgendeinem Ideal entsprechen zu müssen.
Wer in sich selbst ruht, zu seinen Eigenheiten und Skurrilitäten stehen darf, kann auch sehr flexibel und gelassen auf die Eigentümlichkeiten anderer reagieren.

“Being different is what makes us all the same.”

2 Kommentare:

  1. Großartiges Post! 5 Sterne wenn wir auf YouTube wären *g*!

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  2. Jep, dem kann ich mich nur anschliessen. Individualisten sind das Salz in der Suppe der Gesellschaft, aber leider störend für die, die sich einen leicht kontrollierbaren Einheitsbrei wünschen der nach festgelegter Norm lebt und so auch leichter zufriedenzustellen ist.

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