"Bildung ist wichtig, vor allem wenn es gilt, Vorurteile abzubauen.
Wenn man schon ein Gefangener seines eigenen Geistes ist, kann man wenigstens dafür sorgen, daß die Zelle anständig möbliert ist.
"
Peter Ustinov
„Wer die Freiheit aufgibt um Sicherheit zu gewinnen, der wird am Ende beides verlieren.“

Benjamin Franklin


Mittwoch, 8. Dezember 2010

Mord Nr. 3 - Töte den Gedanken

Nachdem hier ja schon eine Reihe von Morden begannen wurden, möchte ich heute einmal über die Funktion des Denkens sprechen.

Krischnamurti sagt dazu:
"Es gibt keine Gedankenfreiheit, denn jedes Denken ist konditioniert." 
Das ist der Grund, warum ich im Laufe der "Mord-Serie" immer wieder darauf hinwies, dass Begriffe stets unter der Berücksichtigung der sozialen, kulturellem und religiösen Zusammenhänge des Einzelnen, sowie seiner persönlichen Erfahrung und Wahrnehmung verstanden werden, man dies erkennen und sich davon lösen müsse.

Selbst, wenn wir uns eben dieser Konditionierung nicht bewußt sind, so ist sie doch vorhanden und beeinträchtig unser Empfinden. Mehr noch, man denkt mit dem Bewußtsein, es drängt sich somit auch in die rein geistige Ebene.

Wir Menschen nehmen Sinneseindrücke wahr - Geschmack, Geruch, Geräusche, Farben, jede kleinste Information und verarbeiten sie sogleich, ziehen unsere Schlüsse daraus und werten sie dann für uns.
Denken ist im Prinzip nichts anderes als eine Hochrechnung von Fakten, erlernten und erlebten und vergessenen, woraus wir Schlussfolgerungen ziehen und dadurch zu temporär für uns gültigen Ergebnissen kommen.
Man mag das Wahrheit nennen, aber diese Wahrheit ist höchst subjektiv und flüchtig.
Jedesmal, wenn neue Fakten dazu kommen, läuft das "Programm" erneut ab.

Im Prinzip also nichts anderes als das, was jeder Computer mit einer guten Datenbank-Software und einer größtmöglichen Anzahl an Variablen auch zu stande bringt. Nur eben, dass dieser den Vorgang wesentlich neutraler und schneller absolvieren kann, da er sich eben weder ablenken noch durch Irrationales oder Unterbewußtes beeinflüssen lässt. Zwar gibt es mittlerweile ja Programme, die in der Lage sind, zu lernen, also aus gemachten "Erfahrungen" Schlüsse für zukünftige Aktionen zu ziehen, aber mit dem menschlichen Lernen und somit Denken hat das wenig zu tun, wenn es sich dabei nicht gerade um pathologische Naturen handelt.


Darum käme nie jemand auf die Idee, einer Maschine wirkliches Denken oder gar irgend eine Art der Vernunft zu zubilligen. Eben weil er vollkommen kalt und neutral ist. Wenn er überhaupt "denkt" dann in einer rein dualistischen Art - 0 oder 1, nein oder ja.

Das Denken läuft bei einem Menschen jedoch wesentlich differenzierter ab. Trotzdem ist es ein rein dualistischer Vorgang.
Wieso?
Nun, sobald wir denken, Betrachtungen vornehmen, etwas zu erfassen, zu begreifen, zu durchschauen oder zu verstehen versuchen, in dem wir darüber sinnieren, tun wir immer das gleiche: Wir trennen Inneres und Äußeres in Ich und Außenwelt, in Wollen und Realität, in Weg und Ziel, in Gegenwart und Zukunft und so fort.
Im Buddhismus nennt man das den Affengeist.
Wie ein Affe turnen wir gedanklich ständig herum, hangeln uns von einem Gedanken zum nächsten, bewerten, katalogisieren, verwerfen und begehren, wollen das eine und das andere nicht und versuchen Wahrheit und Wirklichkeit zu erlangen und es von Falschem und Illusion zu trennen. Dabei verlieren wir aber genau das, den Bezug zur Wirklichkeit (im Sinne von "was wirklich ist") und auch Wahrheit.

Schwer zu verstehen, ich weiß, und noch schwerer für mich es in Worte zu fassen. 
Es ist mit den Gedanken so ähnlich wie mit einem Besuch in der Eisdiele.
Man hat so richtig Lust auf ein Eis sofort schießt einem "Schoko!" durch den Kopf und geht also ins Eiscafé mit dem festen Vorsatz, ein Schokoeis zu bestellen. Dann sieht man all die anderen Sorten und der Affe beginnt zu toben: "Vanille wäre aber auch toll...also Schoko und Vanille...hm... Waldbeer...das sieht so lecker aus, aber da passt Schoko ja gar nicht zu...eigentlich hab ich ja mehr Appetitt auf was Fruchtiges, also Waldbeer und Zitrone..ui. Pfirsich haben die auch, hatte ich ja ewig nicht mehr...was ist denn das Blaue, wie das wohl schmeckt...aber wenn ich das nicht mag..."
Versteht ihr, was ich meine?
Am Anfang war da mal der kristallklare Wunsch nach einem Schokoeis, am Ende hat man irgendwas anderes und vielleicht dazu noch so ein unbefriedigendes Gefühl. Der Affe hat alles durcheinandergebracht.

Ähnlich sieht es mit den Gedanken hinsichtlich unserer Wirklichkeit aus. Anstelle etwas als wirklich, wahr, zu nehmen, entfernen wir uns durch unsere Gedanken davon, was nun tatsächlich wirklich ist, immer weiter und weiter von der Wirklichkeit, der Realität.
Dadurch, dass wir das analysieren, was an Sinneseindrücken ständig auf uns eindringt, schaffen wir quasi eine Parallel-Welt zum Realen, zum Wirklichen, nämlich die Welt in unserem Kopf. Aus dem "Ist" wird somit ein "Könnte sein".
"Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er, oft
unter gewaltigen Opfern, für sein Leben hält, oder eine Reihe von
Geschichten, die mit Namen und Daten zu belegen sind, so daß an ihrer
Wirklichkeit, scheint es, nicht zu zweifeln ist. Trotzdem ist jede
Geschichte, meine ich, eine Erfindung."

Max Frisch
Ein für mich bemerkenswertes Zitat in diesem Zusammenhang. Es besagt nicht, dass Menschen lügen, wenn sie von Begebenheit aus ihrer auch nur kurz zurückliegenden Vergangenheit oder ihrem Leben berichten. Oder doch, allerdings unwissentlich.
Das liegt zum Teil daran, dass jeder Mensch über eine individuelle Wahrnehmung verfügt.
Wenn da ein Stein liegt und hundert Menschen gehen an ihm vorüber, dann nimmt jeder ihn auf seine spezielle Art war, jeder sieht ihn ein wenig anders.
Das ist das eine.
Das andere wäre, in dem Augeblick, wenn ich an diesem Stein vorüber gegangen bin, beginnen meine Gedanken aus dieser Begebenheit etwas zu konstruieren, was so gar nicht stattgefunden hat. Wie er da hingekommen ist, zum Beispiel, wie lange er da liegt, wie seine Zusammensetzung war etc.
Das alles ist jedoch irrelevant.
Da war ein Stein, aus.
Aber durch unsere Gedanken wurde möglicherweise aus "Da ist ein Stein!" schon ein "Da ist nur ein Stein!" oder aber sogar "Da war kein Stein!" Damit nehmen wir ihm jedoch schon einen Teil seiner Bedeutung in der Realität bis hin zur Verleugnung seiner Existenz.

Wie hinderlich der Denkprozess sein kann, erkenne ich persönlich immer daran, wenn ich lese.
Es passiert, dass ich dabei über einen Satz stolpere, der ein Reaktion bei mir auslöst. Er spricht rein intuitiv etwas in mir an.
Dann ertappe ich mich dabei, wie ich zwei Seiten weiter immer noch über den Satz und eben über diese meine Reaktion darauf nachdenke. Einerseits habe ich dann keinen blassen Schimmer mehr, was auf den vorherigen zwei Seiten stand, weil ich gedanklich noch bei dem einen Satz war, ich bin also nicht mehr "in dem Buch", sondern woanders, andererseits hat sich in meinem Bemühen, der Reaktion gedanklich auf die Spur zu kommen, dieses Gefühl bereits verändert oder aber verflüchtigt.
Lese ich den Satz dann erneut, nehme ich ihn anders wahr, er hat sich verändert, möglicherweise so, dass ich die Reaktion nicht mehr nachvollziehen kann. Anstatt also dem Gefühl zu folgen, dass ich beim Lesen empfand, erlangte mein Logos die Oberhand. Und aus war's mit meiner reinen Wahrnehmung, meiner Inspiration und Intuition.

Ein anderes Beispiel war, als ich anfing, mich mit dem Liber Al vel Legis zu beschäfigen. Das war übrigens auch ein Schlüsselerlebnis, was mich überhaupt dazu brachte, über die Thematik des Denkens und der Problematik, die daraus einstehen kann, zu beschäftigen.

Ich versuchte es erst einmal rein intelektuell zu entschlüsseln.
Äm, ja, wer es kennt, wird sich schon ausmalen können, dass ich damit nicht sehr weit kam. Zumindest hatte ich ja noch das "Liber Al für Kinder" (eher für Dummis), wo mit einfachen Worten beschrieben war, um was es überhaupt geht. Außerdem war es weder die erste Schrift über Thelema, noch der erste, kryptische oder sonst anspruchsvolle Text, welchen ich jemals gelesen hatte. Trotzdem biss ich mir daran wirklich die Zähne aus. Ich war schon fast so weit, zu denken, ich wäre zu blöd für das Gesetz.

Dann kam es dazu, dass ich, wie ich es oft tue, im Bett vor dem Schlafen noch etwas in eben diesem Buch las. Da ich ziemlich müde war, driftete ich dabei schon langsam weg, als mir plötzlich die Bedeutung eines Absatzes wie ein Blitz durchfuhr. Also las ich in dem Zustand des "Benebelt-seins" weiter und konnte kaum glauben, dass ich das vorher nie gesehen hatte. Mir ging nicht nur ein Licht auf, sondern ganze Kronleuchter. (das Gefühl kenne ich, das sind die Augenblicke, die im Gedächtnis haftenbleiben! Es gab da mal ein ähnliches Schlüsselerlebnis, als ich "Hanto yo" gelesen habe. Seither sehe ich die Native Americans nicht mehr auf diese widerlich romantisch-verklärte Art, wie sie leider immer noch üblich zu sein scheint. Aber dazu schreibe ich vielleicht später mal etwas).

Und hier ist der Punkt, wo dieser Beitrag über das Töten des bewussten Denkens sich mit dem verbindet, was ich schon in den anderen beiden bisherigen "Tötungsdelikten" über das Hinschlachten des Willens und des Buddhas schrieb.

Sobald wir bewußte Denkprozesse starten, passiert nämlich genau das, was ich dort beschrieb.
Einerseits verfolgen wir damit eine Absicht, und sei es auch nur Wissen zu erlangen oder zu tieferer Erkenntnis zu gelangen, und werden dabei Opfer all dessen, was wir bisher in unserem Leben bewußt und unbewusst aufgenommen haben. Wir "verstoßen" dabei also nicht nur gegen das Gesetz des Dao und erliegen somit den "Leid verursachenden Emotionen" oder Geistesgiften, wir schleppen auch noch all die "Buddhas" im Sinne von Lehren und Lehrmeinungen, negative, wie positive, mit uns, die uns auf im bisherigen Leben begegnet sind.
Unsere Gedanken sind nämlich im Grunde nicht unsere Gedanken, sondern die Summe, aller Erfahrungen, Lernprozesse und Überlegungen, mit denen wir bis dato konfrontiert wurden.

Das heißt jetzt nicht, man solle das Denken ganz lassen oder, wie man so schön sagt, es den Pferden überlassen, weil die ja bekanntlich den größeren Kopf haben.
Nur, man sollte lernen es zu dosieren. Nach-sinnen, Nach-denken, Überlegungen anstellen, Paralellen ziehen, ist im Nachhinein durchaus wünschenswert und nützlich.
Meiner Meinung nach resultieren eine ganze Reihe der Probleme in der Welt ja daraus, dass Menschen zu wenig denken. Aber, mindestens genauso viele Probleme entstehen dadurch, dass Menschen zu viel, oder besser, zur falschen Zeit denken.
Dadurch vernachlässigt man nämlich seine Intuition und damit im Grunde das, was uns miteinander und mit der Welt noch in Verbindung hält und was wir alle noch, meiner Meinung nach, in uns tragen, dem Dao eben.


Hier schließt sich dann auch der Bogen zu meinem Tiphareth-Beitrag , ohne dass ich dies bewusst beabsichtigte.
So wie sich der Etz Chaim darstellt, laufen alle bewussten Denkprozesse nämlich im zweiten Abschnitt des Baumes (man erinnere sich: er stellt nichts anderes als sowohl den Mikrokosmos - Mensch als auch den Makrokosmos - Universum dar) ab. Im Bereich Braih, der auch, aus gutem Grund, die "Welt der Kreation" genannt wird, der Ort, an dem auch Tiphareth, das Selbst, zusammen mit Geburah und Chesed, liegt. Zusammen miit dem unteren Teil Jetzirah ( Josod, Hod und Netzach) bilden sie eben unsere irdische (erdverbundene), physische Existenz. Das Ego/Selbst, die Einzelperson, die wir sind (eigentlich vielmehr vorgeben oder annehmen zu sein).


Hier liegt auch das "Übel", welches Descartes' Philosophie des Rationalismus für mich ausmacht und sich in dem einen Satz "Cogito ergo sum!" manifestiert. (wobei ich seine Theorie nicht generell ablehne und seine reine Methodik durchaus sehr nützlich sein kann. Auch hier gilt "Alle Worte sind heilig und alle Propheten wahr; ausgenommen nur, daß sie ein wenig verstehen" Ich sagte ja, bewußtes, analythisches, rationales Denken an sich ist ja nichts negatives!)
Das Problem, welches ich sehe, ist eben die Hinwendung auf den Absolutheitsanspruch, dass Denken und Sein untrennbar miteinander verbunden sind und die starke Gewichtung auf den Verstand als alleinige Instanz der Existenz (und Gottesbeweis...ich habe auch mal mathematisch die Existenz Gottes berechnet, kam allerdings zu einem anderen Ergebnis: Gott existiert = Gott existiert nicht ^^)
Der Mensch ist aber eben keine Maschine, wie ein PC, sondern auch zu einem nicht geringen Anteil geistig. Pure, physische Existenz ist eben nicht "Sein".
Menschen auf eine rein vernunftbegründete Existenzbebene zu beschränken, heißt sie auch von allen anderen "Existenzen" abzugrenzen und nimmt ihnen so die Möglichkeit, mit diesen in Verbindung zu bleiben. 
Und, der wichtigste Punkt überhaupt und Knackpunkt des Rationalismus und des Zeitalter der Aufklärung, man beraubt ihn dadurch, wenn man dem Ansatz in aller Konsequenz folgt, eines ganz entscheidenden Aspekt seiner Selbst, nämlich eben des Geistigen, was man landläufig mit dem Terminus Spiritualität zu umschreiben versucht.


Belassen wir es einstweilen einfach dabei, dass "Ich denke, also bin ich!" zusammen mit Descartes' zweiter Quintessenz aus den Meditationes de prima philosophia "Ego sum, ego existo!" im Prinzip eben die beiden unteren Abschnitte des Baum des Lebens zusammenfassen.

Damit bleibt eigentlich nur noch ein Mordopfer übrig.


To be continue

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