Ich habe mich in letzter Zeit mit meinem Spielmann des öfteren über den scheinbaren oder offensichtlichen Sitten- und Werteverfall in der heutigen Zeit unterhalten.
Allein schon, dass Sitte, Moral und Anstand oder gar Ehre mittlerweile bei manchen Menschen zu Vokabeln geworden sind, die irgendwie im Sprachgebrauch nicht mehr „In“ sind, sondern als überkommen und altbacken gelten, etwas, was bestenfalls noch für alte Leute oder Moslems eine Bedeutung hat, gibt schon zu denken und spricht für sich.
Dabei sind sie weder das eine noch das andere, sondern die Grundpfeiler des menschlichen Miteinanders.
Der Spielmann ist seinerseits praktizierender Asatruar und lebt nach eigenem Bekunden strikt nach den von Odinic Rite propagierten, als Essenz aus der Hávamál stammenden 9 Edlen Tugenden. Ich selber bin Kelto-Thelemit und versuche mein Leben nach dem Liber OZ und den Lehren Aleister Crowleys und meinem Bauchgefühl auszurichten. (was ganz gut klappt).
Bei oberflächlicher Betrachtung mag es sich nun bei der Hávamál um Werte einer archaischen Kultur, beim Liber OZ um eine Aufforderung zum Hedonismus (alles ist erlaubt) handelt.
Aber dieser Eindruck kann einer tieferen Betrachtung nicht standhalten.
Die scheinbare Freiheit des Einzelnen, die wir im Liber Oz finden, endet nämlich genau da, wo sie die Freiheit des anderen beschränkt und reguliert sich damit selber (geistige Reife des Anwenders vorausgesetzt! Und selbst bei geistiger Unreife greift die Selbstregulierung, wenn man sich mit den Konsequenzen seines Handels befassen muss und darum führt kein Weg vorbei!)
Wenn man nun die 9 Tugenden aufdröselt, merkt man, dass sie eigentlich zeitlose Gültigkeit besitzen:
9 Edlen Tugenden
Mut
(Beherztheit und Mut, zu sich selbst zu stehen und seinem Weg zu folgen. Mut, Dinge zu tun, die nötig sind, auch wenn die Konsequenzen nicht unbedingt angenehm sind. Nicht immer den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen. Nicht aufgeben! -> Standhaftigkeit)
Wahrhaftigkeit
(Aufrichtigkeit, sich selbst treu bleiben -> Treue. Zu seinem Wort sehen. Neudeutsch trueness!
Wahrhaftigkeit ist eigentlich die Grundtugend überhaupt, egal an was oder wen man glaubt oder nicht. Ohne Wahrhaftigkeit sind alle anderen Tugenden nutzlos.)
Ehre
(sich seinen eigenen Werten würdig zu erweisen. „Ehre ist, wenn ich immer so handele, dass ich mich morgens noch im Spiegel betrachten kann, ohne kotzen zu müssen! Und so, dass niemand, für den ich Verantwortung trage (Familie und Freunde) sich schämen muss, mich zu kennen.“[sic])
Treue
(in erster Linie sich selber treu bleiben und seinen Leitsätzen, aber auch zu seinen Worten und seinen Taten und auch zu seinen Fehlern stehen -> Wahrhaftigkeit.
Treue gegenüber Personen darf nie blind sein, sondern kann nur soweit gehen, wie sie nicht gegen die Tugenden verstößt, oder funktioniert nur, wenn der Wertekanon derselbe ist. )
Disziplin
(Selbstdisziplin, aber auch Beharrlichkeit und Zielstrebigkeit, nicht zu schnell aufgeben, sich nicht von etwas zu schnell entmutigen lassen -> Standhaftigkeit. Aber auch: nicht gierig sein, nicht alles haben wollen, Maß halten in allen Dingen)
Gastfreundschaft
(anderen, insbesondere Fremden erst einmal freundliches Entgegenkommen zeigen.
Nicht wegschauen, wenn jemand Hilfe benötigt, sondern handeln, auch: Zivilcourage zeigen und auch: Sich nicht von seinen Vorurteilen beeinflussen lassen)
Geschäftigkeit
(Betriebsamkeit, Arbeiten, nicht anderen auf der Tasche liegen, selber etwas schaffen, neues entstehen lassen, produktiv sein, auch: sich weiterbilden, Wissbegierig sein, Neuem aufgeschlossen sein)
Selbständigkeit
(autark sein, sein Leben selbst auf die Reihe bekommen, eigenes Geld verdienen und seine Freiheit im Rahmen der Möglichkeiten finden. Aber auch: Selbstverantwortlichkeit! Nur wer für sich selbst steht, kann auch andere tragen! Nur wer für sich einsteht, kann dies auch für eine Gemeinschaft.)
Standhaftigkeit
(Unerschütterlichkeit, Ausdauer, auch: wenn man zum hundertsten Male auf die Nase fliegt, aufstehen und wenn etwas zum wiederholten Male nicht klappt, weitermachen und wenn nötig von vorn beginnen.)
Wie man sieht, sind die 9 Tugenden nicht von einander zu trennen, sondern greifen ineinander über und überschneiden sich zum Teil sogar.
Nur wie vermittelt man diese Werte?
Nun, erst einmal, in dem man sie durch eben zeitgemäße Erklärungen „entstaubt“, damit sie ihren „Schrecken“ verlieren.
Aber eigentlich durch nichts besser als durch vorleben. Denn dann erst wird wirklich klar, dass sie immer noch funktionieren im heutigen, modernen Leben, wo die Schlachten nicht mehr mit dem Schwert oder dem Sax gefochten werden, sondern mit Worten und Ellbogen, wo der Freundes- und Bekanntenkreis die Sippe ersetzt hat und wo wir morgens nicht mehr auf das Feld oder zur Jagd gehen, sondern zur Arbeit oder Schule.
Auch wird es kaum noch vorkommen, dass ein müder Reisende an die Türe klopft, und um ein Nachtlager und Speis und Trank anfragt. Aber es gibt immer noch Situationen, in denen jemand Hilfe benötigt, den man eigentlich nicht kennt, sei es jemand, der auf der Straße gestürzt ist, oder jemand, der mit dem Auto liegen geblieben ist.
Manchmal reicht es, in der immer größer werdenden Anonymität der Städte ein klein wenig auf den anderen Acht zu geben, nicht weg sehen, und denken, das geht mich nichts an…
Und, mal ehrlich, so archaisch und überkommen sind sie nicht, sondern durchaus aktuell.
Nur weil sie aus der Hávamál stammen, sind sie auch nicht besonders germanisch und nur für spinnerte Neo-Paganisten, germanophile Träumer und Hörner-Wikinger (es lebe das Vorurteil!) geeignet.
Aber allein dies scheint einige abzuschrecken.
Dabei scheinen doch die Tugenden aus der Hávamál, wenn man sie oben mit den Vermerken (Dank an meinen freundlichen Fachmann! *g*) betrachtet, doch einfach nur logisch und eigentlich recht einfach auch in der heutigen Zeit um zu setzen.
Anmerkung:
Die Hávamál spiegelt wie die Edda, aus der es stammt nicht gesichert die Weltsicht der frühen germanischen Stämme wieder. Sie stammt, so wie wir sie kennen, etwa aus dem 13. Jh.(Codex Regius) und unterliegen damit auch christlicher Prägung. Darüber, welche Werte für sie wirklich von Bedeutung waren und wie sie sie umsetzten, kann man nur mutmaßen.
Ich bin, wie gesagt, kein Asatruar (im Gegenteil, ich kann mit den Germanen nicht allzu viel anfangen.. Sie wollen nicht mit mir und ich wohl auch nicht wirklich mit ihnen. Allein schon die Runen zicken bei mir rum, da lob ich mir mein Tarot…) und habe bisher keinerlei Erfahrungen mit der Anwendung der 9 edlen Tugenden.
Allerdings kann ich bestätigen, dass der Spielmann durchaus ein sehr moderner, bodenständiger Mensch ist.
Und noch was:
Ich kann nachvollziehen, des gewisse Werte oder deren bloße Erwähnung bei gerade jungen Menschen schieres Entsetzen hervorrufen. Ich war auch mal jung und dachte, man müsse alte Zöpfe abschneiden, Progressivität oder gar Anarchie wären die bessere Alternative.
Aber mit den Jahren merkte ich, dass es ohne Regeln und Werte nicht geht, das dies nur zu Chaos und Desorientierung führt.
Das ist wie mit Strickjacken.
Wenn man jung ist, dann denkt man, die sind uncool und so was brauch man nicht, aber wenn man älter wird, lernt man sie wieder schätzen, weil sie so schön kuschelig warm halten, und es ist auch nicht mehr wichtig, ob sie gut aussehen oder man damit ausschaut wie Omma…
Und so ist es auch mit gemeinsamen Regeln und Werten:
Sie geben Sicherheit und Geborgenheit und da ist es wurscht, ob sie etwas altertümlich rüberkommen, denn sie haben sich bewährt und nur das zählt.
Interessanter Link zu einer ausführlichen Abhandlung über die Ethik im germanischen Heidentum findet man auf Asentr.eu.
Kleiner Hinweis für Leute die sich im Internet über germanische Religion und speziell Asatru informieren möchte:
Leider kann man Begrifflichkeiten nicht zuverlässig vor Missbrauch schützen. So kann eine Domain von jedem erworben werden.
Im speziellen Fall hat der mehrfach vorbestrafte Anwalt und NPD-Politiker Jürgen Rieger sich die Adresse Asatru.de gesichert und sie wird seither unter anderem von der Artgemeinschaft genutzt.
Das wirft leider ein sehr unschönes Bild auf die Glaubensrichtung.
Wer sich informieren möchte, der findet aber auch eine Menge andere Organisationen, die über jeden Zweifel erhaben sind. Hier möchte ich nur einmal auf den Verein für Germanisches Heidentum(VfGH) und den Eldaring hinweisen. Dort gibt es auch regelmäßige regionale Stammtische, wo man das persönliche Gespräch suchen kann.
Als Info-Seite kann ich nur wärmsten die Seiten der Alten Sitte empfehlen, Asatr.eu und den Blog Alte Sitte.
Auch andere Links, die man auf meinem Blog zu dem Thema findet, sind frei von braunem Auswurf.
Über einige dieser 9 Tugenden war ich etwas erstaunt. An der Uni, an der ich studiert habe, galt es als vernünftig und intelligent immer den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen und sich zu fügen. Das war dort eine sehr tief verwurzelte Anschauung, die wohl in erster Linie die dortige Hierarchie festigen sollte. Denn da die Herren, die dort die Titel und damit die Macht haben alles andere als tugendhaft sind, stand ihre Autorität auf wackligen Füßen, sobald man mal ein wenig über all das nachdachte und es wagte, das auch noch laut und deutlich zu formulieren.
AntwortenLöschenIch bin mir ganz sicher, dass diese Leute keinerlei Interesse an einem Buch über Tugenden ganz generell hätten. Die meisten Menschen, die sich über so etwas überhaupt Gedanken machen, haben es eher weniger nötig, an das Thema Tugenden erinnert zu werden. Und die, die es nötig hätten, wollen davon nichts wissen.
So viel von mir. Ich wünsche Dir einen schönen, erholsamen dritten Advent. Ich hoffe, Du lässt ab und zu noch etwas von Dir hören. Mich würde es jedenfalls freuen,
Astraryllis.