Grundsatzurteil in Karlsruhe - Sexualkunde ist Pflicht
Soweit so schön, dachte ich, gut dass das mal, angesichts steigender Zahlen von Teenagerschwangerschaften, jemand amtlich gemacht hat, war jedoch neugierig, was das Bundesverfassungsgericht denn nun bewogen hat, sich überhaupt mit der Thematik zu befassen.
Vorweg:
Es geht schon mal nicht generell um Sexualkunde, sondern darum, in wie weit religiöse Konflikte der Eltern Auswirkungen haben dürfen auf ihre Verantwortung, der Schulpflicht ihrer Kinder, also einem Teil der elterlichen Sorgfaltspflicht, zu entsprechen.
Wie dem verlinkten Artikel zu entnehmen ist, haben die Eltern zweier, damals, 2007, neun und acht Jahre alter Grundschüler, es für angebracht gehalten, sie von zwei schulischen Veranstaltungen, einmal einer Fastnacht-Feier und einmal einem Theaterprojektes, bei dem es, unter dem Titel "Mein Körper gehört mir", um Prävention bezüglich Kindesmissbrauch ging, fernzuhalten und hatten dafür ein Bußgeld aufgebrummt bekommen. Sie klagten dagegen vor dem Amtsgericht Paderborn und nach abschlägigem Urteil, wurde die Sache weiter zum Oberlandesgericht Hamm geleitet, dass der Klage ebenfalls nicht statt gab. Also legten sie Verfassungsbeschwerde ein.
Was mir allerdings die Sprache verschlug, war die Begründung, die man am besten an der Quelle, also in der Entscheidung des BVerfG unter dem Aktenzeichen 1 BvR 1358/09 nachliest.
Da heißt es, unter anderem:
"Die staatliche Schule sei zur Neutralität und Toleranz verpflichtet. Diese Pflicht sei verletzt, wenn Kinder gezwungen würden, an einer katholischen Fastnachtsveranstaltung teilzunehmen. Fastnacht sei ein katholisches Fest. Es werde heute so gefeiert, dass Katholiken sich vor der Fastenzeit Ess- und Trinkgelagen hingäben, sich maskierten und meist völlig enthemmt - befreit von jeglicher Moral - wie Narren benähmen. In dieser Weise werde Fastnacht auch an der Grundschule gefeiert."
und hinsichtlich des Theaterprojektes:
"Das Theaterprojekt „Mein Körper gehört mir“ basiere auf einer absolut einseitigen emanzipatorischen Sexualerziehung. Sie vermittele den Kindern, dass sie über ihre Sexualität allein zu bestimmen hätten. Ihr einziger Ratgeber, der sie niemals täusche, sei danach ihr Gefühl. Dieses trete an die Stelle elterlicher Erziehung. Damit werde auch das Wohl der Kinder gefährdet, weil diese mit der vermeintlichen Freiheit überfordert seien. Ihr, der Beschwerdeführer, Gewissen verbiete es, ihre Kinder einer solch unguten Erziehung auszusetzen, die Gottes gute Gebote zur Sexualität aufhebe und Kinder zu sexuellen Handlungen animiere bis hin zur Pädophilie."
Sie beriefen sich dabei auf eine Verletzung der im Grundgesetz festgelegten Grundrechte:
Art 4und
1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.
(2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet..
Art 6
(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.
Art 103
(1) Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör.
Soweit zu der juristischen Seite der Angelegenheit, wobei mir schleierhaft ist, warum sie auch Art 103 GG anführten, denn gehört worden waren sie ja, nur die Urteile fiel eben nicht in ihrem Sinne aus...
Nun bin ich aber kein Jurist, sondern in erster Linie mal Privatperson und selbst Mutter zweier Kinder und als solche bin ich doch ziemlich erschüttert darüber, mit welchem Weltbild manche Leute ihre Kinder großziehen.
Sicher, es steht Eltern frei, ihre Kinder in ihrem Sinne zu erziehen, wie ihnen auch der Art. 6 GG zugesteht, aber, so denke ich, die Eltern der beiden Kinder haben sich schon aus gutem Grund nur auf Satz 1 dieses Artikels berufen, denn dort steht im zweiten Satz nämlich auch "Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft"[sic] und das ist für mich in erster Linie mal nicht der Staat als Organ, sondern sondern wir alle.
Wenn man sich denn schon, hinsichtlich Kindererziehung, auf das Grundgesetz beruft, so denke ich, sollte an erster Stelle überhaupt der Artikel 2 GG zum Zuge kommen:
(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.
(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.
Gerade da sehe ich persönlich als Elternteil von Seiten der Eltern eine grobe Nachlässigkeit.
Denn, ich für meinen Teil denke, Ziel der elterlichen Fürsorge sollte doch eigentlich sein, seine Kinder zu körperlich und geistig gesunden, selbständigen Menschen werden zu lassen.
Ich meine, in dem besonderen Fall ging es doch um Grundschulveranstaltungen, eine Karnevalsfeier und ein Projekt, welches die Selbstbehauptung von Kindern, besonders in Hinblick auf möglichen Missbrauch, stärken sollte, und ich denke, dies wird schon kind- und altersgerecht gestaltet worden sein.
Wie das jedoch rüber kommt, könnte man denken, es hätte sich einerseits um Orgien Richtung Sodom und Gomorrha, andererseits um einen Aufruf zur sexuellen Freizügigkeit gehandelt.
Sicher, ich bin der letzte, der die Religionsfreiheit beschnitten sehen möchte, aber darf denn die Freiheit des Glaubens über den Menschenrechten stehen?
Und auch, wenn mir klar ist, dass man seinen Glauben nicht mal eben am Schultor abgeben kann, so hat die jeweilige religiöse Ausrichtung, meiner Meinung, nach in der öffentlichen Schule nur einen rein marginalen Stellenwert einzunehmen.
Haben denn Kinder nicht auch das Recht, Spaß zu haben, ausgelassen zu sein oder eben "Nein!" zu sagen, wenn mal wieder Verwandte, Bekannte oder sonst wer, und seien es auch die eigenen Eltern, sie ungefragt antatschen und dazu gehört für mich auch ein ungefragtes Knuddeln oder Abknutschen und sei es noch so nett gemeint.
Kinder, die verinnerlicht haben, dass sie bestimmen dürfen, wann und mit wem sie körperliche Nähe wollen, werden mit Sicherheit weit aus seltener willige Opfer von "netten Onkeln". Meine Meinung!
Viel schlimmer jedoch empfinde ich das Weltbild, dass hinter einem solchen Handeln stehen muss.
Wie muss es in Menschen aussehen, die Präventionsmaßnahmen gegen Kindesmissbrauch gerade als Animation zu sexuellen Handlungen bis hin zur Pädophilie deuten?
Wie muss es in ihnen aussehen, wenn ein harmloses Karnelvalsvergnügen für Grundschüler(!) als Orgie verteufelt wird.
(Nebenbei: 99,9% der Leute, die Karneval feiern, interessiert es herzlich wenig, dass da der Beginn der katholischen Fastenzeit eingeläutet wird. In erster Linie ist das regionales Brauchtum!)
Zumal in dem Fall die Schule ja auch, für Karnevalsmuffel Alternativprogramme, Sport und Schwimmen, anbot.
Wir sind ja hier auch ein Karnevals-Verweigerer-Haufen und das als Rheinländer, und ich persönlich finde es ziemlich bescheuert, wie sich manche an den Tagen aufführen, derweil sie die restlichen Tage im Jahr in ihrem Spießertum vor sich hin dümpeln, aber, liebe Güte, ich lass ihnen ihren Spaß und wenn ich gerade Lust bekomme, dann lasse ich an den Tagen auch mal die Puppen tanzen, ganz harmlos, weil ich mir eben die restliche Zeit auch nichts verkneifen muss.
Auch Kinder haben ein Recht auf ihr Quantum an Spaß und Ausgelassenheit.
Und sie haben auch schon ein Recht auf ihre sexuelle Selbstbestimmung. Und wenn man sie in einem gesunden Umfeld groß werden lässt und ihnen ein ebenso gesundes Maß von beidem zugesteht, dann werden sie auch lernen, wie man damit verantwortungsbewusst umgeht.
Tabuisiert man solche Dinge jedoch, verteufelt sie sogar, so meine Meinung, so besteht die Möglichkeit, dass die kindliche Entwicklung Schaden nimmt und sie zu verklemmten, gehemmten Erwachsenen werden.
Und eben darin liegt auch die elterliche Sorgfaltspflicht, genau dieses zu vermeiden.
Und die Grundrechte gelten schließlich für alle, auch, in besonderem Maße, für Kinder.
Eltern mögen ihre Kinder vor allem schützen wollen, keine Frage, aber wer schützt Kinder vor ihren Eltern?
Weiterführende Links:
FOCUS - Urteil: Kinder müssen trotz religiöser Bedenken zum Sexualkunde-Unterricht
SZON - Karlsruhe lehnt Befreiung von Sexualkunde ab
BVerfG: Eltern haben auch bei Konflikten aus religiösen Gründen Verantwortung für die Einhaltung der Schulpflicht
N24 - Urteil: Auch Sexualunterricht ist Pflicht
Idea - Schulpflicht hat Vorrang vor religiösen Bedenken
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
Hallo Nicola
AntwortenLöschenMehr Toleranz wäre angebracht, von deiner Seite wohl bemerkt.
lg
rem
Eine, speziell deutsche, Krankheit: Wenn man einen klaren Standpunkt vertritt, ist man intolerant.
AntwortenLöschenDu, es ist nicht meine Aufgabe alles zu tolerieren, was so an menschlichen Wirrungen in Umlauf ist.
Mal davon abgesehen, dass die Eltern hier gegen geltendes Recht verstoßen haben, in dem sie ihre Kinder ohne Not vom Unterricht fern hielten, und es ablehnten, das ihnen deshalb auferlegte Bußgeld zu entrichten, sondern lieber ohnehin schon überlastete Gerichte durch mehrere Instanzen bis hin zum BVerfG (!) bemühten, was an sich schon allein für sich spricht, allerdings ihr gute Recht war, so darf man doch hoffentlich noch darüber nachsinnen, wie weit das Recht zur ungestörten Religionsausübung auf die anderen Grundrechte Einfluss nehmen darf, insbesondere wenn es dabei um die Rechte Dritter, in dem Fall der Kinder, geht.
Übermäßiges strapazieren des Begriffs Toleranz, mein Guter, kann auch, frei nach Nietsche, ein Beweis des Misstrauens gegen das eigene Ideal sein. ;)